Versetzungen sorgen aufgrund des schrittweisen Abgleitens von Gitterblöcken für eine spannungsarme Verformung.
Einleitung
Um einen Verformungsprozess in Gang zu setzen ist auf atomarer Ebene eine bestimmte kritische Schubspannung erforderlich. Wie im Abschnitt Grundlagen der Verformung beschrieben liegen die theoretischen Werte für einen Idealkristall teilweise um den Faktor 1000 höher als die in der Realität gemessenen Spannungen.
Ursache für diese Diskrepanz sind bestimmte Gitterbaufehler, die in der Realität eine Gitterstruktur durchsetzen. Es handelt sich dabei um die Versetzungen, wobei im Folgenden ausschließlich auf die Stufenversetzung näher eingegangen werden soll.
Rolle der Versetzungen im Verformungsprozess
Aufgrund von Versetzungen müssen beim Abgleiten einer Gitterebene nicht mehr alle Bindungen zwischen zwei Ebenen auf einmal aufgebrochen werden. Vielmehr genügt es nun immer nur eine Bindungsreihe zu überwinden. Die Versetzungslinie springt unter geringem Kraftaufwand schrittweise von Atomreihe zu Atomreihe und tritt am Ende schließlich als Gleitstufe aus dem Material aus.
Der Verformungsprozess setzt aufgrund des energiearmen Wanderns der Versetzungen somit bei bereits viel geringeren kritischen Schubspannungen ein als dies die Theorie ohne die Berücksichtigung von Versetzungen vorhersagt! Diese kritische Schubspannung wird auch als Peierls-Nabarro-Spannung bezeichnet.
Versetzungen ermöglichen ein kraftarmes Abgleiten von Atomblöcken, sodass Verformungsprozesse in Realkristallen bereits bei geringeren kritischen Schubspannungen eintreten als in Idealkristallen!
Das kraftarme Abgleiten der Atomebene durch eine Versetzung kann mit dem Verschieben eines Teppichs veranschaulicht werden. Einen großen und schweren Teppich in seinem Ganzen zu verschieben erfordert aufgrund der Reibung zwischen Teppich und Boden in der Regel eine sehr große Kraft. Werden in den Teppich allerdings Falten geschlagen und diese dann jeweils durch den Teppich hindurch bewegt, so kommt man wesentlich kraftsparender ans Ziel. Der Teppich kann sich praktisch wie eine Raupe schrittweise fortbewegen.
Durch das Verständnis über den atomaren Mechanismus der Verformung und die zentrale Rolle der Versetzungen, können nun auch gezielt Maßnahmen ergriffen werden, um eine Verformung zu verhindern. Schließlich ist man bei vielen Konstruktionen daran interessiert, dass sich die verwendeten Werkstoffe selbst unter hohen Belastungen eben gerade nicht verformen. Sie sollten also hochfest sein. Wie solche Maßnahmen zur Festigkeitssteigerung von Metallen aussehen können, wird im Folgenden erläutert.
Verfestigungsmechanismen
Unter dem Begriff Verfestigungsmechanismen versteht man Maßnahmen die darauf abzielen die Verformung eines Metalls gezielt zu verhindern. Somit wird eine möglichst hohe Festigkeit des entsprechenden Werkstoffs erreicht. Da die primäre Ursache eines Verformungsprozesses das Wandern von Versetzungen ist, beruhen letztlich alle festigkeitssteigernden Maßnahmen auf einer gezielten Blockierung dieser Versetzungsbewegung.
Unter Verfestigung versteht man das gezielte Blockieren von Versetzungen zur Festigkeitssteigerung!
Auf die wichtigsten Verfestigungsmechanismen wird in den folgenden Abschnitten näher eingegangen:
- Mischkristallverfestigung
- Ausscheidungsverfestigung (Ausscheidungshärtung)
- Korngrenzenverfestigung
- Kaltverfestigung
Mischkristallverfestigung
Das Prinzip der Mischkristallverfestigung beruht auf dem Verzerren des Gitters durch Fremdatome. Dabei kann es sich sowohl um Substitutions- oder auch um Zwischengitterfremdatome handeln. Aufgrund deren Blockierung der Versetzungsbewegung können die Gitterebenen folglich nicht mehr so leicht aufeinander abgleiten. Eine Verformung des Gitters tritt somit erst bei deutlich höheren kritischen Schubspannungen ein, da die Gitterverzerrung zusätzlich noch überwunden werden muss. Auf diese Weise wird letztlich eine Festigkeitssteigerung des Werkstoffes erreicht.
Bei einer Mischkristallverfestigung blockieren Fremdatome die Versetzungsbewegung!
Ausscheidungsverfestigung
Auf die ähnliche Weise wie Fremdatome bei der Mischkristallverfestigung die Versetzungsbewegung erschweren können, können auch Ausscheidungen das Wandern der Versetzungen blockieren. Man spricht von Ausscheidungsverfestigung bzw. von Ausscheidungshärtung.
Bei einer Ausscheidungsverfestigung blockieren Ausscheidungen die Versetzungsbewegung!
Dieses Prinzip wird vor allem bei sogenannten aushärtbaren Aluminiumlegierungen angewandt. Dabei wird die Aluminiumlegierung zunächst auf relativ hohe Temperatur erwärmt, so dass sich die darin befindlichen Fremdatome vollständig im Aluminiumgitter lösen können. Beachte, dass die Löslichkeit im Allgemeinen mit sinkender Temperatur abnimmt, sodass für eine vollständige Löslichkeit eine hohe Temperatur erforderlich wird.
Wird nun rasch abgekühlt (Abschrecken genannt), so bleiben die Fremdatome trotzt geringerer Löslichkeit im Gitter zwangsgelöst. Da in diesem Zustand die Konzentration an gelösten Fremdatomen über der eigentlichen Löslichkeitsgrenze liegt, spricht man auch von einem sogenannten übersättigten Mischkristall.
Dieser Zustand ist thermodynamisch betrachtet nicht stabil, sodass sich die zwangsgelösten Fremdatome nun beginnen aus dem Gitter auszuscheiden und eigene Verbindungen (Ausscheidungen) innerhalb des Metalls zu bilden. Um diesen Prozess der sogenannten Auslagerung (auch Altern genannt) zu beschleunigen, wird die Legierung leicht erwärmt, sodass die Diffusionsvorgänge rascher ablaufen können.
Korngrenzenverfestigung (Kornfeinung)
Das Prinzip der Korngrenzenverfestigung beruht auf der erschwerten Versetzungsbewegung über die Korngrenzen hinweg. Korngrenzen stellen in diesem Zusammenhang also keine Schwachstellen im Werkstoff dar sondern tragen im besonderen Maße zur Festigkeitssteigerung bei!
Eine möglichst hohe Anzahl an Korngrenzen erreicht man durch möglichst viele feine Körner im Werkstoff. Deshalb wird die Korngrenzenverfestigung auch Kornfeinung genannt. Eine möglichst feine Körnung kann durch gezielte Beeinflussung der Schmelze während der Abkühlung erreicht werden (bspw. durch Impfen oder Unterkühlen der Schmelze).
Bei einer Kornfeinung blockieren Korngrenzen die Versetzungsbewegung!
Das Prinzip der Kornfeinung wird bei sogenannten schweißgeeigneten Feinkornbaustählen im Stahlbau angewandt. So hat Kohlenstoff im Stahl zwar eine festigkeitssteigernde Wirkung, er ist jedoch im Hinblick auf eine gute Schweißbarkeit unerwünscht. Kohlenstoff macht den Stahl durch die rasche Abkühlung nach dem Schweißen hart und spröde. Deshalb ist man aufgrund einer guten Schweißbarkeit (wie dies im Stahlbau eben oft verlang wird) dazu gezwungen den Kohlenstoffgehalt im Stahl so gering wie möglich zu halten. Um dabei dennoch eine hohe Festigkeit zu gewährleisten, ist man auf Kornfeinung angewiesen. Die Durchmesser der einzelnen Körner liegen bei Feinkornbaustählen im Bereich von ca. 20 µm.
Kaltverfestigung
Das Prinzip der Kaltverfestigung beruht auf dem Einbringen von zusätzlichen Versetzungen während einer plastischen Verformung. Bei jedem Verformungsprozess werden immer auch neue Versetzungen in den Werkstoff eingebracht. Die Versetzungen behindern sich somit gegenseitig am Wandern, was eine festigkeitssteigernde Wirkung zur Folge hat.
Bei einer Kaltverfestigung blockieren zusätzlich eingebrachte Versetzungen sich gegenseitig am Wandern!
Die Steigerung der Festigkeit während einer plastischen Verformung kann auch anhand des Spannung-Dehnung-Diagramms anschaulich nachvollzogen werden. Hierzu wird eine Zugprobe zunächst bis in den plastischen Bereich hinaus gedehnt (rote Linie bis zum Punkt A), d.h. über die Dehngrenze \(R_p\).
Wird die Kraft anschließend wieder weggenommen, so läuft der Zustandspunkt in einer parallelen zur Hooke’schen Geraden auf den Spannungswert null zurück (Punkt B). Dementsprechend weist der Werkstoff eine bleibende Dehnung auf.
Wird der Zugversuch nun nochmals wiederholt, so läuft der Zustandspunkt zunächst wieder die elastische Gerade hinauf und geht erst bei höheren Spannungswerten in den plastischen Bereich über (blauer Kurvenverlauf).
Der Vergleich beider Kurven macht deutlich, dass die plastische Verformung nun erst bei höheren Spannungswerten eintritt, d.h. die kaltverfestigte Probe weist offensichtlich eine erhöhte Dehngrenze \(R_p\) auf! Auch die Zugfestigkeit erhöht sich entsprechend.
Eine Kaltverfestigung wird bspw. beim Herstellen von kaltgewalzten Blechen gezielt herbeigeführt, um im Vergleich zum warmgewalzten Zustand eine deutlich höhere Festigkeit zu erzielen.
Beachte, dass eine Kaltverfestigung nicht in beliebigem Maße erfolgen kann. Werden durch plastische Verformung zu viele Versetzungen eingebracht so wird der Werkstoff hierdurch lokal zerstört und reißt.
Dieses Verhalten zeigt sich zum Beispiel beim mehrmaligen Hin- und Zurückbiegen eines Drahtes. Dies geht nur so lange gut, bis zu viele Versetzungen eingebracht wurden und der Draht schließlich bricht.